HOCHSENSIBILITÄT UND INDIVIDUELLES SCHMERZEMPFINDEN

ALLGEMEINE INFO

WAS IST HOCHSENSIBILITÄT?

Hochsensibilität ist keine anerkannte medizinische Diagnose, sondern wird als Persönlichkeitsmerkmal betrachtet, bei dem Betroffene Reize intensiver verarbeiten. Hochsensible Personen nehmen Geräusche, Gerüche und andere Sinneseindrücke oft stärker wahr, was zu einer schnelleren Erschöpfung und Überforderung führen kann. Diese erhöhte Sensibilität betrifft nicht nur äußere Reize wie Lärm und Licht, sondern kann auch die Wahrnehmung von Schmerzen verstärken. Obwohl Hochsensibilität keine Krankheit ist, kann sie im Alltag eine Herausforderung darstellen, da Betroffene oft mehr Rückzugsräume und Ruhephasen benötigen, um die Vielzahl an Reizen zu verarbeiten.

Es gibt verschiedene Faktoren, die mit einer überdurchschnittlichen Wahrnehmung von Reizen in Verbindung gebracht werden:

Trauma
Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, ob Hochsensibilität auch durch Trauma erworben werden kann. Einige Experten argumentieren, dass Hochsensibilität ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal ist, das nicht zwangsläufig mit Trauma zusammenhängt. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass traumatische Erlebnisse die Sensibilität einer Person verstärken können. Frühe Traumata wie Gewalt oder Bindungstraumata können eine Sensibilisierung im Nervensystem bewirken, die später zu Überreiztheit und anderen psychischen Herausforderungen führen kann. Hier sollte auch berücksichtigt werden, dass für hochsensible Menschen vielleicht eine Situation bereits als traumatisierend erlebt wird, während durchschnittlich sensible Menschen die selbe Situation möglicherweise als völlig normal verarbeiten und nicht als traumatisch erfahren.

Genetische Einflüsse
Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass erhöhte Sensibilität genetisch bedingt sein könnte, hochsensible Eigenschaften treten demzufolge auch in einigen Familien gehäuft auf. Ein spezifisches Gen konnte allerdings bislang nicht identifiziert werden. Möglicherweise bestehen Zusammenhänge mit einer veränderten Reizverarbeitung im Gehirn. Darüber hinaus gibt es andere genetische Besonderheiten, die sich auf das Schmerzempfinden oder die Empfindlichkeit gegenüber äußeren Reizen auswirken können:

Rote Haare
Rothaarige Menschen haben ein anderes Schmerzempfinden als Menschen mit anderen Haarfarben. Studien deuten darauf hin, dass sie auf bestimmte Schmerzreize empfindlicher reagieren, während sie gegenüber anderen weniger empfindlich sind. Beispielsweise reagieren Rothaarige stärker auf Hitze- und Kälteschmerzen, während Druckschmerzen ihnen weniger ausmachen. Der Grund dafür liegt in einer Mutation des Melanocortinrezeptors 1 (MC1R), der auf dem 16. Chromosom liegt. Diese Mutation beeinflusst nicht nur die Produktion des roten Pigments Phäomelanin sondern beeinflusst auch das Schmerzempfinden. Interessanterweise benötigen rothaarige Menschen oft mehr Narkosemittel bei Operationen, da sie auf einige Anästhetika weniger ansprechen. Die genauen Zusammenhänge zwischen der MC1R Mutation und dem Schmerzempfinden sind noch nicht vollständig erforscht.

CYP-Enzyme
Cytochrom-P450 Enzyme (CYP-Enzyme) spielen eine wesentliche Rolle im Metabolismus von Schmerzmitteln und können die Schmerzwahrnehmung beeinflussen. Diese Leber-Enzyme sind für den Abbau vieler Medikamente verantwortlich, einschließlich Schmerzmitteln wie Ibuprofen und Opioiden. Einige Schmerzmittel müssen auch erst durch CYP-Enzyme aktiviert werden, um ihre Wirkung zu entfalten. Unterschiede in der Aktivität dieser Enzyme, die genetisch bedingt sein können, führen zu variierenden Reaktionen auf Schmerzmittel. Menschen, die als „ultrarapid metabolizer“ klassifiziert sind (bis zu 10% der europäischen Bevölkerung), metabolisieren zum Beispiel einige Medikamente so schnell, dass unter Standarddosierungen gar keine wirksamen Plasmaspiegel aufgebaut werden können.
Wechselwirkungen mit anderen Substanzen, die die Aktivität von CYP-Enzymen hemmen oder erhöhen („induzieren“), können ebenfalls die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Schmerzmitteln beeinflussen. So können beispielsweise CYP2D6-Inhibitoren (darunter einige Antidepressiva) den Abbau von Opioiden verlangsamen, was zu höheren Plasmaspiegeln und einem erhöhten Risiko für Nebenwirkungen führt.

Methylierungsstörungen
Methylierung bezeichnet die chemische Übertragung von Methylgruppen auf Moleküle durch Enzyme (Methyltransferasen). Diese chemische Reaktion spielt in unserem Körper eine ganz zentrale Rolle in der Regulation biologischer Prozesse und findet in jeder Zelle tausendfach pro Sekunde statt. Verschiedene Faktoren können diese Reaktion empfindlich stören. Solche Methylierungsstörungen, die häufig mit veränderter Schmerzwahrnehmung in Verbindung gebracht werden, umfassen sowohl Übermethylierung als auch Untermethylierung. Diese Störungen können das Schmerzempfinden beeinflussen, indem sie die Genexpression und die Funktion von Neurotransmittern und Hormonen verändern.
Eine übermäßige Methylierung kann zu einem Überschuß an Neurotransmittern wie Serotonin, Dopamin und Noradrenalin führen, was die Schmerzschwelle erhöhen kann (also weniger schmerzempfindlich machen kann).

Untermethylierung kann zu einer erhöhten Schmerzempfindlichkeit führen, da sie die Fähigkeit des Körpers beeinträchtigt, Entzündungen zu regulieren und die Schmerzverarbeitung zu beeinflussen. Untermethylierung ist oft mit einem Mangel an wichtigen Nährstoffen wie Vitamin B6, B12, Folsäure und Methionin verbunden, die für den Methylierungsprozess wichtig sind. Darüber hinaus kann Untermethylierung auch entstehen, wenn der Körper mit vielen Schadstoffen und/oder Medikamenten belastet ist, die beim Abbau methyliert werden müssen oder wenn genetisch bedingt Methylierungs-relevante Enzyme nicht optimal funktionieren. Zu diesen Enzymen gehören zum Beispiel COMT (Catechol-O-Methyltransferase, s.u.), HNMT (Histamin-N-Methyltransferase, wichtig beim Abbau von Histamin) sowie MTHFR (Methylen-Tetrahydrofolat-Reduktase, wichtiges Enzym im Folsäurestoffwechsel, Funktionseinschränkungen führen unter anderem zu Thromboseneigung, Gefäßerkrankungen und erhöhtem Risiko für Fehlgeburten).

Symptome, die mit Untermethylierung in Verbindung stehen können, sind neben erhöhtem Schmerzempfinden auch Depressionen, Angststörungen, Müdigkeit und Erschöpfung, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie Histaminüberschuß mit Kopfschmerzen, Schlafstörungen und allergischen Reaktionen.

COMT-Polymorphismus/slow COMT
Die Catechol-O-Methyltransferase (COMT) ist ein Enzym mit 3 zentralen Funktionen:

  • Abbau von Stresshormonen (Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin)
  • Abbau von Östrogen
  • Abbau von Arznei- und Umweltschadstoffen (aromatische Kohlenwasserstoffe, PCB, Dioxine, Furane)

Bei bis zu 30 % der europäischen Bevölkerung liegen genetische Varianten (Polymorphismen) mit deutlich reduzierter Enzymaktivität vor. Bei betroffenen Menschen ist der Körper vermehrt dem Einfluss von Stresshormonen ausgesetzt, was neben anderen Begleiterscheinungen auch zu vermehrtem Schmerzempfinden beitragen kann. Für diese Menschen funktionieren meist die sonst oft hilfreichen Entspannungsverfahren wie Meditation oder autogenes Training überhaupt nicht, sie kommen abends nur schwer zur Ruhe und brauchen häufig Sport als Ventil, um die hohen Stresshormone besser abbauen zu können. Die ständig erhöhten Adrenalinwerte führen zu schmerzhaften und oft therapieresistenten Muskelverspannungen. Betroffene Frauen haben oft zusätzlich hormonelle Beschwerden wie ausgeprägte prämenstruelle Syndrome (PMS) und vertragen oft keine östrogenhaltigen Antibabypillen.

Leiden Sie unter unklaren chronischen Schmerzen oder sind Sie überdurchschnittlich schmerzempfindlich und würden Sie sich als hochsensible Persönlichkeit einstufen?
Wir beraten Sie und unterstützen Sie in den weiteren Therapiemöglichkeiten.

SYMPTOME UND ANZEICHEN

WAS SIND TYPISCHE ANZEICHEN FÜR ERHÖHTE EMPFINDLICHKEIT?

Mögliche körperliche Anzeichen:

  • Unverträglichkeit von Medikamenten oder außergewöhnliche Reaktionen auf Medikamente
  • Überempfindlichkeit für Gerüche mit Übelkeit oder Kopfschmerzen
  • Intensive Wahrnehmung von Reizen
  • Zyklusabhängig schwankende Symptome und Schmerzen
  • Ungewöhnlich hohe muskuläre Anspannung
  • Neigung zu funktionellen Verdauungsbeschwerden und Nahrungsmittelunverträglichkeiten
  • Schlafstörungen

Mögliche psychische Anzeichen:

  • Schwierigkeiten, die eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen
  • Hohe Empathie für andere Personen im Umfeld
  • Neigung zu Unsicherheit, Ängsten und Panikattacken
  • Große Schwierigkeiten, abzuschalten und zu entspannen

Haben Sie diese Symptome bei sich wiedergefunden? Kommen Sie mit den üblichen Schmerzmitteln an Ihre Grenzen und suchen weitere Therapiemöglichkeiten? – Wir im MEDIVITUM in Wiesbaden begleiten Sie, beraten Sie auch in alternativen Behandlungsmöglichkeiten und unterstützen Sie dabei.

 

Therapie und Behandlungen

WIE WERDEN SCHMERZEN BEI HOCHSENSIBLEN MENSCHEN BEHANDELT?

Im medizinischen System spielt Hochsensibilität als Persönlichkeitsstruktur bislang keine wirkliche Rolle. Ein guter Hausarzt oder Schmerztherapeut sollte und wird natürlich ohnehin immer individuell vorgehen und im Rahmen einer sorgfältigen Anamnese auch Hinweise auf erhöhte Schmerzwahrnehmung oder Unverträglichkeit von Medikamenten erfragen.

Eine spezielle Behandlung für Schmerzen bei Hochsensibilität gibt es nicht. Ein besseres biochemisches Verständnis für die zugrundeliegenden Ursachen kann aber sowohl für Patienten als auch für Therapeuten den Umgang mit verstärktem Reizempfinden leichter und effektiver gestalten.

Funktionelle Medizin

WIE KANN FUNKTIONELLE MEDIZIN BEI ERHÖHTEM SCHMERZEMPFINDEN HELFEN?

In der „Funktionellen Medizin“ betrachten wir den Körper individuell und ganzheitlich und achten auf das gesunde Zusammenspiel körpereigener Funktionen. Sind diese gestört, können Ungleichgewichte entstehen, die auch unterschiedliche Schmerzzustände unterhalten können. Bei hochsensiblen oder überempfindlichen Menschen spielen somato-psychische Faktoren eine zentrale Rolle, also primär den Körper betreffende Veränderungen, die sich sowohl auf die Körperfunktion als auch auf das psychische Erleben und Befinden auswirken.

Gerade im Umgang mit hochsensiblen Menschen sind folgende Punkte besonders wichtig:

  • Kenntnis und Anerkennung von verschiedenen Ursachen für unterschiedlich starkes Schmerzempfinden und unterschiedliche Wirkung von Medikamenten
  • Ganz individuelle Dosierung von Schmerzmitteln aus einer Skala von Homöopathie bis hin zu stark wirksamen Opioiden oder Multimedikation
  • Vermehrter Einsatz von nicht-medikamentösen Therapiemaßnahmen
  • Achtsamer Umgang mit den Besonderheiten der hochsensiblen Persönlichkeitsstruktur
  • Im Bedarfsfall psychotherapeutische Begleitung
  • Bei entsprechender Indikation eventuell auch genetische Diagnostik und individuelle Therapie-Empfehlungen

Wir im MEDIVITUM in Wiesbaden beraten Sie individuell und spezialisiert. Kontaktieren Sie uns als Experten. In einem persönlichen Gespräch nehmen wir uns Zeit und entscheiden mit Ihnen, ob weitere Therapiemaßnahmen erfolgreich sein können.